AUFBRUCH ZUR SAISON 2022/23

Ein Gespräch mit dem Künstlerischen Gremium zur Neuaufstellung des MKO

FLORIAN OLTERS (FO): Die Pandemie ist noch nicht überwunden. Gleichzeitig stellt ein Angriffskrieg die jahrzehntewährende Friedensordnung in Europa auf eine gefährliche Probe. Inmitten einer Lage, in der wir alle uns nach mehr Sicherheiten, mehr Stabilität zurücksehnen, betitelt das MKO seine neue Saison mit ›Aufbruch‹. Wie gehört das alles zusammen?

 

 

FLORIAN GANSLMEIER (FG): Unser Saisonmotto ›Aufbruch‹ hatten wir lange vor Beginn des Kriegs in der Ukraine formuliert. Es kam aus der Motivation heraus, dass wir als Orchester einen Aufbruch für uns stemmen wollen – im ganz fundamentalen Sinne einer neuen Aufstellung. Dieser Gedanke hat in den zwei Pandemie-Jahren konkrete Gestalt angenommen. Gleichzeitig ist ›Aufbruch‹ rein musikalisch und programmatisch ausgesprochen interessant. Wo und wann gab und gibt es in Epochen Aufbrüche? Der Anfang eines Stücks ist ja immer schon eine Setzung, eine Tür, der Beginn einer Reise in eine musikalische Welt. Das alles kann immer auch als Spiegel der Zeitgeschichte verortet werden. Man sollte jedoch das Motto in diesem Sinn nicht zu konkret auf die Pandemie oder auf Krieg und Frieden beziehen, sondern auf eine Energie – ein Konzertprogramm und das Konzertleben –, die man aus einer Phase heraus entwickelt, die wir alle als Stagnation erlebt haben. Deswegen ist ›Aufbruch‹ für uns, über das rein Musikalische hinaus, ein Thema.

Foto: Florian Ganslmeier

Daniel Giglberger

Foto: Florian Ganslmeier

FO: Weg vom Chefdirigenten hin zu einem Modell mit drei zentralen Persönlichkeiten, die in den kommenden drei Jahren mit dem MKO eng zusammenarbeiten: Das ist konkret die Neuausrichtung beim MKO. Warum dieses Modell und wieso gerade jetzt?

 

DANIEL GIGLBERGER (DG): Zunächst muss man festhalten, dass wir mit der Pandemie und dem Krieg ja nicht nur zwei Krisen haben, sondern viele weitere. Was momentan in den Hintergrund gerät, ist die Umwelt- und Klimakrise. Gerade in den existenziellen Krisen, die uns gegenwärtig umgeben, fragen wir uns als Kulturinstitution stets, welche Relevanz wir haben. Welche Aufgabe haben wir oder sollten wir erfüllen? Als MKO sind wir eine Art Mischorchester. Wir sind zwar fest angestellt, aber wir sehen uns als verantwortungsvolle, mittragende Mitglieder in einem freien Kulturbetrieb. Das macht uns aus. Insofern ist es für uns Musiker wichtig, dass wir verantwortungsvoll einen Bereich mittragen, der das Menschsein mit ausmacht – unabhängig von allen Krisen. Was ist für uns Musik? Was kann und will Orchester sein? Insofern ist die Neuausrichtung auch ein Ausdruck unserer inneren Stärke. Dass wir dafür nun mit diesen drei Persönlichkeiten verbunden sind, ist ein starker Anfang – ein Aufbruch eben.

 

FO: Heißt das im Umkehrschluss auch, dass das MKO als Kammerorchester mit diesem Schritt im Grunde seine eigene Identität schärft: nämlich ein gleichberechtigtes Musizieren auf Augenhöhe aus dem Geist der Kammermusik?

 

NANCY SULLIVAN (NS): Wir alle sind kreative Individuen und haben uns bewusst für ein Kammerorchester entschieden. Das bringt eine gewisse Freiheit mit sich, die wir uns erarbeitet haben, und es ist wichtig, dass wir diese Freiheit auch mitgestalten können. Das ist anders, unmittelbarer, als es in einem großen Symphonieorchester möglich wäre. Es verlangt eine aktive Haltung ebenso wie eine intellektuelle Inspiration. Wir brauchen diese Direktheit, dieses kammermusikalische Funkensprühen zwischen dem Dirigenten und uns.

FO: Wird aber nicht gleichzeitig mit diesem Dreier-Modell die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt?

 

YUKI KASAI (YK): Es mag paradox erscheinen, eben weil man die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt. Was uns aber auszeichnet, ist das Übernehmen von Verantwortung innerhalb des Kollektivs. Jeder einzelne hat seinen Bereich, den man auch nicht streitig macht. Zugleich wollen wir aber unsere Offenheit und Neugierde weiterleben, die uns als MKO auszeichnet. Umso folgerichtiger ist es, dass wir diese Bandbreite und Verantwortung, unser Profil also, nicht auf eine einzige Person fokussieren, sondern die Perspektive öffnen. Diese drei Persönlichkeiten passen fantastisch zu uns und sind gleichzeitig total unterschiedlich. Genau das spiegelt zugleich unsere Neugierde wider. In diesem Sinn waren wir uns sehr schnell einig, dass wir inmitten dieser Krisen einen positiven Begriff wollten, der noch dazu aus der Zeit der coronabedingten Stagnation einen neuen Akt der Bewegung ausdrückt.

 

Foto: Florian Ganslmeier

Yuki Kasai

Foto: Florian Ganslmeier
Foto: Marco Borggreve

Florian Ganslmeier

Foto: Marco Borggreve

FG: In dem Moment, wo alles zum Stillstand kam, war für uns gefühlt der Druck sehr groß, etwas zu ändern. In einer Zeit der allgemeinen Entschleunigung haben sich die Prozesse, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen, ganz im Gegenteil viel mehr beschleunigt, als es im Normalbetrieb womöglich der Fall gewesen wäre. Das berührt zugleich ein bekanntes Münchner Problem.

 

FO: Nämlich? 

 

FG: München ist und denkt zentralistisch, braucht seine ›Häuptlinge‹, die vorne stehen. Wenn sie gehen oder gar in Ungnade fallen, ist das ganz fürchterlich. Im Grunde war es auch unser Ansatz, davon ein Stück wegzukommen, ohne beliebig zu werden. Wir haben schon sehr lange und früh über diese Fragen diskutiert. Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren erfolgreich, und diesen Weg möchten wir weitergehen. Das jetzige Dreier-Modell ist stabil, weil es eben nicht aleatorisch nur mit Gästen agiert und zugleich alles das möglich macht, was zu unserem Profil ganz wesentlich gehört

FO: Dieses Dreier-Modell ohne Chefdirigent ist also nicht einer finanziellen Notlage geschuldet?

 

DG: Dass das Dreier-Modell weniger Kosten verursachen würde als das Modell mit Chefdirigent, wäre sicher eine Illusion. Wir haben drei Musiker, die als Dirigenten international aufgestellt und gefragt sind. Wir freuen uns außerordentlich, dass sie mit uns arbeiten wollen. Das gilt gleichermaßen für alle, die in dieser Saison zu uns kommen. 

 

FG: Es ist umgekehrt eine Herausforderung für das Orchester, die man als solche auch klar benennen darf. Bei uns geht es immer zuerst um das Inhaltliche – um das Schaffen von künstlerischen Spielräumen. Dafür muss man dann selbstverständlich eine realistische Finanzierung aufstellen, wir können uns nicht leisten, leichtsinnig zu werden. Wie bisher beim Chefdirigenten, brauchen wir auch jetzt ein gemeinsames Verständnis von allen Beteiligten für unsere wirtschaftliche Situation und unsere Möglichkeiten. Mit Clemens Schuldt haben wir eine große Breite von Werken erarbeitet und großartige gemeinsame Projekte realisiert. Es geht nicht darum, ihn abzulösen, sondern es ist ein Strukturwechsel.

Foto: Florian Ganslmeier

Nancy Sullivan

Foto: Florian Ganslmeier

NS: Wir haben tatsächlich sehr viel und lange über die Stabilität und Kontinuität unseres Profils gesprochen. Können wir es uns überhaupt leisten, ohne einen Chefdirigenten zu agieren? Für uns war es aber sehr essenziell, dass wir eine musikalische Stabilität entwickeln in unserer Art, Musik zu machen. Gerade deshalb gab es ein starkes Bedürfnis, diese drei Musiker als Partner zu haben. Uns gibt das mehr Stabilität, weil sich auf diese Weise über längere Zeit eine gemeinsame musikalische Sprache entwickeln kann.


FO: Warum nicht drei Dirigentinnen?

FG: Man könnte auch die Frage stellen, warum diesmal drei von vier Komponistenporträts im Rahmen der ›Nachtmusik‹ in der Pinakothek der Moderne Frauen gewidmet sind. Das war reiner Zufall, vielleicht aber auch überfällig. Wir haben auf diesem Gebiet kein festes Programm, weil sich der Umgang mit dem Thema ›Diversität‹ beim MKO im Orchesterleben ganz selbstverständlich entwickelt. Wir haben eine Konzertmeisterin und einen Konzertmeister, einen Solo-Cellisten und eine Solo-Cellistin, und das ließe sich so fortsetzen. Wir arbeiten seit vielen Jahren mit einem Verein zusammen, der gezielt Komponistinnen unterstützt: musica femina münchen. Genauso selbstverständlich gibt es immer wieder – und auch zunehmend mehr – junge Dirigentinnen, die wir für unser Profil spannend finden und anfragen. Das alles gehört ganz natürlich zu unserer Identität, ist entstanden ohne ideologischen Überdruck.

 

FO: Nun ist dieses spezifische Dreier-Modell weder basisdemokratisch noch personenzentristisch oder auf Konzertmeister- und Continuo-Leitungen ausgerichtet. Inwieweit beschreitet das MKO im Orchesterleben mit diesem Modell Neuland?

DG: Auf Deutschland bezogen ist dieses Modell ganz gewiss Neuland. 

DAVID SCHREIBER (DS): Was tatsächlich exemplarisch ist, ist diese paritätische Konstellation mit drei Dirigenten als zentralen Partnern. Wir haben natürlich noch weitere künstlerische Partner und Partnerinnen, mit denen wir langfristig planen. Dieses dirigentische Dreier-Modell kenne aber auch ich in dieser Form nicht.

FO: Wie äußern sich diese drei Musiker-Profile konkret in der Dirigierhaltung und dem Zusammenwirken mit dem Orchester?

 

DS: Als Komponist, Instrumentalist und Dirigent hat Jörg Widmann eine ganz eigene, universelle Sichtweise. Niemand versteht kompositorische Strukturen und vermag sie so zu vermitteln wie er, auch dem Publikum gegenüber. Das fesselt uns alle an ihm.

 

DG: Gleichzeitig ist er als Dirigent eine Persönlichkeit, die im Konzert den Zauber des Augenblicks walten und die Zügel loslässt – der mit uns gemeinsam musiziert. Diese Haltung zeichnet allerdings alle drei aus, und es ist auch eine Art ›Beuteschema‹ von uns beim MKO. Natürlich muss jemand dirigieren, aber wir wollen Musiker haben, die mit uns Musik machen. 

 

DS: Mit Bas Wiegers haben wir zwar noch nicht sehr viele Projekte gemacht. Trotzdem stellte sich bei mir persönlich auf Anhieb der Eindruck ein, dass sich der Klang des Orchesters anders und eigen entwickelt hat. Das Ergebnis war stets ein freies und befreites Musizieren. 

Foto: Florian Ganslmeier

David Schreiber

Foto: Florian Ganslmeier

YK: Er schafft es, in jedem Werk eine eigene Lebendigkeit zu vermitteln. Ich hatte das Gefühl, dass sich das ganze Ensemble öffnen konnte, wobei auch das für alle drei gilt. Bei Enrico Onofri kommt hinzu, dass er auch ein fantastischer Sänger ist. Jörg Widmann ist bekanntlich auch ein Klarinettist, was meiner Meinung nach eine weitere Parallele ist.

 

FO: Sie meinen das gemeinsame Atmen im Musizieren?

 

YK: Ganz genau. Ich habe bei ihnen stets das Gefühl, dass ihre Arbeit viel mit Atem zu tun hat. Bei gemeinsamen Aufführungen stellte sich bei mir immer der Eindruck ein, dass man atmen kann und darf. 

 

NS: Als Streicher sind wir auf diesem Gebiet naturgemäß nicht unbedingt begabt. 


PHILIPP ERNST (PE): Bei jedem der drei habe ich den Eindruck, dass der Klang auf einmal sehr groß wird, was für eine recht reduzierte Streicherbesetzung ungewöhnlich ist.


FO: Das Entwickeln von Programmen mit drei zentralen Persönlichkeiten kann zugleich eine große Herausforderung sein, oder?

 

PE: Es ist weniger eine Herausforderung als vielmehr eine große Freude. An verschiedenen Stellen wächst Unterschiedliches zusammen, zumal alle drei ihrerseits durchaus unterschiedliche Schwerpunkte und Interessen haben. Es hat sich sehr schnell herauskristallisiert, wer was machen möchte. Enrico Onofri schwebt ein Mozart-Schwerpunkt vor, aus der historisch informierten Aufführungspraxis kommend. Als einstiger Barock-Geiger geht wiederum Bas Wiegers aus dem Zeitgenössischen und der klassischen Moderne gewissermaßen zurück. Jörg Widmann hat eine besondere Vorliebe für Felix Mendelssohn, Robert Schumann oder Carl Maria von Weber. Das alles ist aber sehr fluid.

Foto: Florian Ganslmeier

Philipp Ernst

Foto: Florian Ganslmeier

FG: Es geht eben nicht darum, drei Künstler zu ›engagieren‹, um sie jeweils in Schubladen zu stecken. Es hat uns sehr gefreut, dass alle in den Gesprächen vor allem auch klar gesagt haben, was sie nicht mit uns machen wollen. Sie alle haben eine klare Vorstellung, wo sie uns etwas geben, welche Repertoirebereiche wir gemeinsam vertiefen können. Genau das ist der große Unterschied: der Anspruch an einen Chefdirigenten, unser ganzes, sehr breites und offenes Repertoire-Spektrum abdecken zu müssen, weicht einem zugleich offeneren und konzentrierteren Modell.

 

FO: Trotzdem stehen alle drei auch für jene programmatische Offenheit, für die das MKO bekannt ist, oder? 

 

DS: Absolut. Ob Jörg Widmann, Bas Wiegers oder Enrico Onofri: Bei ihnen gibt es zugleich eine ganz natürliche, organische Verbindung zwischen der Tradition und dem Heute. 

 

DG: Bei Enrico Onofri kommt hinzu, dass München einen gewissen Aufholbedarf hat in puncto Interpretation der Wiener Klassik und der historischen Aufführungspraxis. Mit ihm werden wir da zu einer anderen, neuartigen Relevanz kommen. Gleichzeitig füllt er auch die zeitgenössische Musik mit seiner eigenen Klangvorstellung. Er ist eben nicht einfach ein Experte für Alte Musik, sondern schafft den Brückenschlag zur zeitgenössischen Musik. Das passiert leider viel zu selten, und mit ihm haben wir jetzt einen fantastischen Anwalt dafür. Für uns sind solche Brückenschläge sehr wichtig.

FO: Zumal viele Komponisten heute in einem direkten Bezug stehen zur Alten Musik und den Fragen des Originalklangs? 

 

FG: Nur bildet der Konzertbetrieb das zu wenig ab. Dieses Problem der Trennung versuchen wir ja grundlegend zu überwinden, und ich bin sehr froh, dass es uns auch gelingt. Eine Uraufführung ist immer ein Wagnis. Es macht aber einen großen Unterschied, ob sie in einem experimentellen Raum erklingt, der sich ›freie Szene‹ nennt, oder im Prinzregententheater in einer klassischen Aboreihe – und zwar nicht nur quantitativ, sondern beides hat auch eine eigene, unterschiedliche Qualität. Das ist auch für die Komponisten etwas anderes. Sie alle denken freier, in offeneren Kontexten, als es der Musikbetrieb praktiziert. 

 

DG: Mit den drei ›Associated Conductors‹ teilen wir dieselbe Neugierde und denken in ähnlichen Kategorien. Wir kommen zu einer Vertiefung unseres Profils, aber mit der Klangsprache eines jeden einzelnen. 

 

YK: Wir können auf die Suche gehen, um eine gemeinsame Klangsprache zu finden. Bei einer Zusammenarbeit, die über drei Saisons geht, hat man tatsächlich auch die Möglichkeit, das Vokabular zu erweitern. Daran sind wir alle interessiert.

FO: Was passiert nach den kommenden drei Jahren mit den drei Persönlichkeiten und dem MKO? 

 

DG: Wir hoffen, dass es weitergeht – dass es mit ihnen bei einer langfristigen Zusammenarbeit bleibt. Dies ist jetzt zunächst einmal der Anfang. 

 

FG: Diese drei Jahre bilden eine gewöhnliche vertragliche Laufzeit, die wir mit einem neuen Chefdirigenten auch hätten. Von daher ist es eine ganz organische Angelegenheit. Sie ist als Zukunft offen gehalten, birgt aber trotzdem auch eine klare Perspektive. Wir freuen uns alle und sind gespannt, wohin uns diese Reise führen wird. Zuviel strategisches Denken ist ohnehin nicht gut in der Kunst und Kultur.

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